Ricarda lief so schnell sie konnte in den kleinen Park gleich neben dem Dorfplatz. Sie setzte sich auf eine Bank unter einer alten Eiche, wo sie unbemerkt den glitzernden Zauberumhang abstreifen wollte.
In diesem Moment kam ihr überhaupt nicht in den Sinn, wie gefährlich dieser Platz bei Gewitter war. „Ich möchte jetzt nur, dass die anderen mich wieder sehen können! So rennt mich jeder um, ich kann nicht in die Schule gehen, und beim Ballspielen kann mir keiner mehr den Ball zuwerfen." Sie versuchte, den Umhang zu fassen und abzuziehen, aber dieser ließ sich einfach nicht greifen, sie konnte ihn sehen, aber nicht ausziehen.

Ricarda war verzweifelt und begann heftig zu weinen. Sie wusste nicht, was sie machen sollte. Die Regentropfen aus ihrem Haar vermischten sich mit ihren Tränen, tropften leise auf den Boden.

Ein Rascheln riss sie aus ihren trüben Gedanken,  sie sah nach unten - „Das kann doch nicht wahr sein!", schoss es ihr durch den Kopf. Ein kleines graues Mäuschen sprang aufgeregt um ihre Füße herum, zupfte immer wieder an ihren Schuhriemen, bis Ricarda sich endlich zu dem Mäuschen herabbeugte. „Was willst du denn?", fragte sie.

Das Mäuschen fiepte unruhig, rannte von Ricarda weg, blieb stehen, fiepte wieder. Ricarda hatte das Gefühl, das Mäuschen wollte, dass sie ihr folgen solle. Nur ganz kurz überlegend rannte sie der kleinen Maus hinterher. Es huschte querfeldein, durchs hohe Gras, hatte richtig Mühe das kleine graue Etwas nicht aus den Augen zu verlieren, über Steine und Zäune schnell genug zu folgen.

Bald waren sie am Rand des Flüsterwaldes angelangt. Von einem Moment zum nächsten verzog sich das Gewitter, und Sonnenstrahlen blinzelten durch die ersten Lücken zwischen den Wolken.

Da sah sie das kleine Reh. Es wartete auf Ricarda und stupste sie wieder mit der Nase an. Es lief wieder mit ihr zum Flüsterwald, genau zu der Stelle, an der sie eingeschlafen war. Als sie dort stand und fragend das Reh ansah, wehte plötzlich ein Wind, leise flüsternd, und strich um ihren Körper. Sie sah an sich herab und beobachtete, wie der Umhang von ihr abglitt und von dem Wind hoch in die Baumwipfel getragen wurde. Dort löste er sich auf, und zurück blieb ein heller Glanz auf den Spitzen der Bäume.

Ein Flüstern wurde vom Wind herüber getragen. Ricarda glaubte nun auch etwas zu verstehen. „...nichts für sie übrig hast,“  meinte sie zu hören,
„.... so lieb ... du siehst nur dich...“
Es waren die Worte die Kinga zuvor am Brunnen zu Miriam gesagt hatte.

 

Das Reh verschwand, ehe Ricarda zeigen konnte, wie froh sie war. Da vernahm sie auch schon die Stimmen der anderen Kinder: „Ricarda, wo steckst du denn? Wir haben dich gesucht!” Miriam fragte: „Gehen wir zu dir nach Hause mit den Puppen spielen?” Ricarda zögerte, sie dachte an das Gespräch am Brunnen. Keiner wusste, dass sie zugehört hatte, sie verriet jedoch nichts und antwortete nur: „Nein, Miriam, ich habe keine Lust, ich wollte Kinga fragen, ob ich ihr beim Einkaufen helfen kann!” - „Au ja,” sagte diese, sichtlich erfreut, dass sie nicht alleine einkaufen musste, während die anderen Kinder am Brunnen planschten. „Wir können Joker mitnehmen“, lachte Ricarda, Hand in Hand liefen sie fröhlich über die Wiese ins Dorf.