Die kleine Ricarda lebte in einem kleinen Dorf mitten zwischen grünen Wiesen und Feldern und einem kleinen Wald. Dieser wurde Flüsterwald genannt. Man munkelte, dass man dort merkwürdige Stimmen hören konnte, sie klangen wie das leise Flüstern eines alten Mannes.

So oft es ging besuchte Miriam ihre beste Freundin Ricarda, und sie ließen ihre Beine von der großen Schaukel im Garten baumeln. Ab und zu spielten sie am Dorfbrunnen fangen, mit Tobias und Kinga.
Der Rotschopf Tobias war ein ziemlich wilder Kerl, aber auf seine ehrliche Art richtig nett, fand Ricarda.
Kinga, ein zierliches Mädchen mit langen dunklen Haaren und sanften braunen Augen, war eher still. Miriam wiederum war eher vorlaut und ungeduldig. Wenn Kinga nicht mit zum Spielen kam, sondern ihrer Mutter helfen musste, meinte Miriam, Kinga sei langweilig.

Heute saß Ricarda alleine im Garten auf der großen Schaukel, die Sonne war gerade erst aufgegangen.
In den ersten Sonnenstrahlen entdeckte sie ein kleines Reh auf der Wiese hinter dem Garten. Sie ging langsam zu ihm hin, und blieb immer wieder stehen, um das Reh nicht zu verschrecken.

Aber das Reh hatte keine Furcht, sondern ließ sich sogar von dem Mädchen streicheln. Dann lief das Reh ein Stückchen auf die Wiese hinaus, wo es stehen blieb und auf Ricarda zu warten schien. Sie folgte ihm, und so entfernten sich beide immer weiter vom Dorf.

Plötzlich hörte Ricarda Stimmen um sich herum, sie merkte, dass sie schon am Waldesrand angelangt war. Das Reh war verschwunden, es blieb das heisere Flüstern hoch oben in den Baumwipfeln. Ricarda versuchte die Worte zu verstehen, aber sie wurde so müde, dass sie sich in einer Mulde im Gras zusammenrollte.

Sie fiel in einen tiefen Schlaf. Ricarda träumte, dass kleine, bunt gekleidete Männchen einen Stoff brachten, der wie tausend Sterne glitzerte. Die Männchen zupften eifrig an Ricardas Kleidern herum und maßen immer wieder ihre Größe. Aus dem wundersamen Stoff schnitten sie einen langen Umhang.

 

Als Ricarda schlaftrunken wieder zu sich kam, waren die kleinen Männlein verschwunden. Sie schaute an sich herab und sah einen glänzenden hauchdünnen Mantel mit weiten Ärmeln und einer mit Brillianten besetzten Kapuze. Nie zuvor hatte Ricarda ein solch edles Kleidungsstück gesehen. Sie schaute sich verschlafen um. Sie muss lange gelegen haben, aber dennoch erschien es ihr, als sei die Sonne kaum weiter gewandert. 

Da bemerkte Ricarda wieder das Reh auf der Wiese, es schien bereits auf sie zu warten. Gemeinsam liefen die beiden zum Dorf, wo das Reh sie verspielt mit der Nase stupste, um dann zum Wald zurückzugehen.

Ricarda sah ihm verwirrt nach, ohne den glänzenden Umhang hätte sie alles nur für einen schönen Traum gehalten.

Dann aber fiel ihr ein, dass sie sich mit den anderen Kindern aus dem Dorf zum Spielen am Brunnen treffen wollte.

 

Auf dem Weg dorthin kam sie am Hof vom alten Jansen vorbei. Ricarda ging hinein, um ihn zu fragen, ob sie Joker mitnehmen darf, den zotteligen Mischlingshund. Joker begrüßte sie wild und sprang an ihr hoch. Als sie vor dem alten Mann stand, der sie sonst schon von weitem winkend begrüßte, schien er durch sie hindurch zu sehen. Mit großen Schritten kam er auf sie zu, wäre Ricarda nicht zur Seite gesprungen, hätte er sie glatt umgerannt. Das konnte nur eines bedeuten: Der alte Jansen konnte sie gar nicht sehen!