Heute war ein besonders schöner Tag. Durch die Käfigstäbe schienen warme Sonnenstrahlen, in denen ich wohlig meine Flügel ausstreckte. Vanessa gab mir wie immer frische Körner, füllte neues Wasser in meinen Swimmingpool und stellte mein Häuschen nach draußen, gleich unter den duftenden Apfelbaum.

So ein schönes Gefühl! Hier fielen mir die schönsten Melodien ein. Ich konnte den ganzen Tag singen und in meinem Swimmingpool planschen oder an der leckeren Hirse knabbern.

An diesem Tag durfte auch Nicki in den Garten. Ihr Häuschen war gleich neben meinem. Wir unterhielten uns dann sehr nett, obwohl sie einen seltsamen Dialekt sprach. Während ich gut verständlich rede wie jeder vernünftige Wellensittich, kam aus ihrem Schnabel ein heiseres Krächzen, und man musste gut zuhören, um sie zu verstehen.

„Flori“ rief Nicki, „ist das nicht ein schöner Tag!“ - Ich antwortete: „Sogar die Spatzen sind heute gut gelaunt, sieh’ nur wie sie im Apfelbaum herumhüpfen!“

Mich haben die Spatzen nie sonderlich interessiert. Ich war immer höflich zu ihnen, habe stets versucht, mit ihnen in ihrer Sprache zu sprechen. Ein paar von ihnen waren einfach nur frech und stahlen heimlich das Futter, das Vanessa für mich bereit stellt!

„Dies ist wirklich ein schöner Tag, Nicki. Wie gerne würde ich im Apfelbaum sitzen, die bunte Welt von oben sehen,“ merkte ich an. Nicki konnte diesen Wunsch offensichtlich nicht nachvollziehen. „Wo es uns in unseren Häuschen doch so gut geht...“ sagte sie wie so oft. Nicki war eben schon älter, das fiel mir oft auf, sie war soviel ruhiger als ich.

Ich setzte mich auf eine Stange in der Sonne und schlief ein. Träumte, wie ich so viele aufregende Sachen unternehmen würde. Auf einem gigantischen Schiff über die Meere fahren, wie ich es aus dem Fernsehen kannte. Das Schaukeln der Wellen konnte ich richtig spüren, es kribbelte bin in die kleinste aller Krallen.

 

„Hey, Moment mal!“, rief ich plötzlich. Das war kein Schaukeln mehr, sondern ein Erdbeben. Ich verlor den Halt. Der Swimmingpool stürzte herunter, die Tür meiner Wohnung war aufgerissen.

Als ich mich aufrappelte, sah ich Tiger, den frechen Kater von nebenan. Nur sein gieriges Gesicht war zu sehen, die Augen funkelten regelrecht, mir wurde schnell klar, er war auf Beutezug. Ein Schatten zog über mich hinweg, als er seine Pfote mit ausgefahrenen Krallen in das Haus streckte.
Das Haus wurde hin und her geschleudert.

Nicki kreischte, als sie sah, dass ich es nur knapp schaffte, an Tigers scharfen Zähnen vorbei zu fliehen. Am ganzen Leib zitternd flog ich so hoch und so weit ich nur konnte. 

Erst als die Abenddämmerung einbrach, setzte ich mich. Erst jetzt war mir klar geworden, dass ich in einer Wohnung war. Es war eine Wohnung, die aussah wie meine, aber viel, viel größer, einfach riesig. Immer noch aufgeregt suchte ich mir endlich ein Eckchen, an das die blöde Katze nicht kommen konnte. Ganz weit oben, unerreichbar für Tiger, dort kam ich allmählich zur Ruhe. Fertig von all der Aufregung und nun ruhiger atmend steckte ich meinen Schnabel unter den Flügel. Sofort fiel ich in einen tiefen Schlaf, in einen süßen Traum, in dem Vanessa sanft rief ‚Flori! Ich hab was Feines für dich!’, während ich in meinem Käfig unter dem Apfelbaum saß.

Plötzlich wurde ich von einem Höllenlärm geweckt. Das Gebell einer Horde Hunde mischte sich unter das laute Rufen von Männern. Und wieder schwankte der Boden unter meinen Füssen, wie bei einem Erdbeben.

Benommen öffnete ich die Augen und sah – was für ein Schreck: riesige Zähne. Hunderte von riesigen Zähnen in einem riesigen, langen, Maul unter kleinen seltsamen Augen! Das Maul verzog sich zu einem Grinsen: „Hallo, wen haben wir denn da? Bist du zum Zähneputzen gekommen?“ – „Wie, Zähneputzen?“, fragte ich vorsichtig. In diesem Moment kam mir Tiger vergleichsweise nett vor. „Weißt du nicht, wer ich bin?“, tönte es aus dem Maul, das zu einem großen langen Körper gehörte. „N-Nein, wer bist du denn?“ stotterte ich. In dieser Lage hielt ich Höflichkeit für wichtig. „Ich komme aus Afrika. Ich bin ein Krokodil“ sagte das Ungeheuer. „Und ein Krokodil hat immer viele Diener. Und wer kein Diener ist, dient als Futter“. Das Grinsen wurde immer breiter.

„Wo bin ich da bloß“, dachte ich, „Afrika ist doch weit weg.“ Ich fragte „Bitte, womit könnte ich kleiner Wellensittich denn dir großem Krokodil helfen?“ - „Ganz einfach“ sagte das Krokodil, „immer wenn ich mit einer Mahlzeit fertig bin, musst du mir die Reste zwischen den Zähnen herauspicken.“ – „In Ordnung“ sagte ich zitternd, was hätte ich sonst sagen sollen. Das Krokodil schien unglaublich schnell zu sein, ich wollte das gar nicht erst ausprobieren.

Immer wenn es etwas gefressen hatte, holte ich mit meinem Schnabel die Reste zwischen seinen vielen Zähnen hervor. Igitt, war das eklig, so etwas würde ich nie essen! Nachts schlief ich auf seinem Rücken, denn da war ich wenigstens sicher vor den Zähnen. An Wegfliegen war nicht zu denken, immer wenn ich nur die Flügel hob, blinzelte mich das Krokodil gefährlich an.

Eines Tages hörte ich eine helle Menschenstimme rufen: „Papa, guck’ mal, da ist ein Wellensittich bei Kroko!“ Der Mensch, der Papa hieß, öffnete die Wohnung des Monsters, in der ich nun auch gefangen war. In der Hand hielt er eine Stange, wohl um Kroko nicht zu nahe an sich heran zu lassen. Das Ungeheuer schien ihn nicht für Futter zu halten.

„Komm Kleiner!“, sagte der Mensch zu mir, „oder willst du die Nachspeise für Kroko sein?“
Er klang sehr nett, erinnerte mich an zu Hause. Schnell hüpfte ich auf seinen ausgestreckten Arm und wurde ganz vorsichtig aus der Wohnung des großen Krokodils gehoben.

 

„Papa, ich hab’ ihn gefunden, er gehört mir!“, rief die helle Stimme. Es war ein sommersprossiger Junge mit einem roten Haarschopf, Jan wurde er gerufen. Jans Vater nickte lächelnd und ließ mich auf die Hand des Jungen hüpfen, der mich dann mit in sein Haus nahm.